Judenfeindliche Prozessionsdarstellungen, röm.-kath. Kirche St. Peter und Paul, Gehrden

Beschreibung

Das Todesurteil gegen Jesus von Nazareth wurde vom römischen Statthalter Pontius Pilatus verhängt und von römischen Soldaten vollstreckt. Dennoch finden sich in der christlichen Ikonografie häufig Darstellungen, die suggerieren, dass die Juden im Hintergrund als treibende Kraft agierten. Dies stellt eine Form der Gottesmordlegende dar, die oft in Kreuzwegdarstellungen reproduziert wird. Ein Beispiel hierfür sind die Kreuzwegstationen in der römisch-katholischen Kirche St. Peter und Paul in Gehrden.

Betrachtet man die erste Station der Kreuzwegreliefs in der Kirche St. Peter und Paul in Gehrden, fallen sofort vier Protagonisten im Vordergrund ins Auge. Von links nach rechts sind dies: der römische Statthalter Pontius Pilatus, ein junger Mensch mit einer Waschschüssel, Jesus von Nazareth und ein römischer Soldat. Diese Szene, die nur im Matthäusevangelium vorkommt, zeigt Pilatus, wie er symbolisch seine Hände in Unschuld wäscht1, während der Verurteilte von dem römischen Soldaten abgeführt wird. Bei Matthäus mündet diese Szene unmittelbar in den sogenannten Blutfluch „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“2. Durch diesen Blutfluch macht das Matthäusevangelium die jüdischen Zeitgenossen Jesu sowie deren Nachkommen für die Folgen des römischen Unrechtsurteils verantwortlich.

Judenfeindliche Konsolfigur (A), Kirche Mariä Heimsuchung, Warburg (Altstadt)

Betrachtet man das Relief genauer, entdeckt man hinter Pilatus eine weitere Person. Diese flüstert ihm ins Ohr, was er tun solle. Dadurch wird suggeriert, dass hinter dem von der römischen Staatsmacht ausgesprochenen Urteil die Juden die eigentliche Verantwortung tragen. Diese Verlagerung der Verantwortung für die Hinrichtung Jesu von Nazareth zeigt sich bereits während der Entstehung der vier kanonischen Evangelien und führte zur Gottesmordlegende, die bei Bischof Melito von Sardes bereits vollständig ausgeprägt war. In seiner um das Jahr 160 n. Chr. entstandenen und 1940 als Handschrift wiederentdeckten Predigt über das Pessachfest klagte er die Juden folgendermaßen an: „Welch schlimmes Unrecht, Israel, hast du getan? Du hast den, der dich ehrte, geschändet […] Du bereitetest ihm spitze Nägel und falsche Zeugen und Fesseln und Geißeln und Essig und Galle und das Schwert und die Trübsal wie für einen Raubmörder […] Getötet hast du den Herrn inmitten Jerusalems! Höret es, alle Geschlechter der Völker und sehet: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalem in der Stadt des Gesetzes, der Hebräer, der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt! […] Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden; der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden; der das All befestigte, ist am Holz befestigt worden […] der Gott ist getötet worden; der König Israels ist beseitigt worden von Israels Hand. Oh, welch unerhörter Mord! Oh, welch unerhörtes Unrecht!“3. Unter den Kirchenvätern, die ihm folgten, waren Origenes, Ephraem der Syrer, Hieronymus, Tertullian und viele andere.

Judenfeindliche Konsolfigur (A), Kirche Mariä Heimsuchung, Warburg (Altstadt)

Die erste Station ist nicht das einzige Bild der Kreuzwegreliefs in der Kirche St. Peter und Paul in Gehrden, das jüdisches Wirken im Hintergrund und damit jüdische Verantwortung bei der Hinrichtung Jesu von Nazareth propagiert. Auch auf den Reliefs der Stationen 2, 3, 5, 6, 7, 9 und 11 erscheinen Personen, die durch ihre Kleidung als jüdisch gekennzeichnet sind. Diese Figuren beobachten das Geschehen und nehmen darauf Einfluss. Die plastische Gestaltung der Werke lässt erkennen, dass die römischen Soldaten auf diese Personen achten, wodurch bei den Betrachtenden der Eindruck entsteht, dass die Soldaten deren Anweisungen folgen.

Die hier reproduzierte Gottesmordlegende wurde als Legitimation für die Shoah herangezogen und hat Auswirkungen bis in unsere heutige Zeit. Beispielsweise ergab eine Befragung in zehn europäischen Ländern im Jahr 2012, dass durchschnittlich 22 Prozent der Befragten davon ausgehen, dass “die Juden” Jesus Christus getötet hätten.4 Das Motiv der Unterstellung jüdischen Wirkens im Hintergrund, von jüdischen Strippenziehenden hinter sichtbarem Unheil, wird bis in die Gegenwart immer wieder reproduziert. Es handelt sich dabei um ein Grundmotiv der historischen Judenfeindschaft wie auch des zeitgenössischen Antisemitismus.


Fußnoten

1 vgl. Matthäus 27,24; dieser Ritus bezieht sich auf 5.Mose 21,6-9
2 vgl. Matthäus 27,25
3 zitiert nach: Rohrbacher, Stefan; Schmidt, Michael (1991): Judenbilder, Reinbek, S. 222

4 vgl. Tarach, Tilman (2022): Teuflische Allmacht, Über die verleugneten Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus, Berlin, Seite 52

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