Judenfeindliche Passionsdarstellung, röm.-kath. Kirche St. Johannes Enthauptung, Warburg (Ossendorf)

Beschreibung

Die vier Evangelien nennen drei Gruppen, die in unterschiedlichem Maße an der Verhaftung, Verurteilung, Auslieferung und Kreuzigung Jesu beteiligt waren: die Römer als militärische Besatzungsmacht, der Sanhedrin als oberste religiöse Autorität des damaligen Judentums und die Anhänger der Sadduzäer in Jerusalem. Übereinstimmende Textstellen verdeutlichen, dass der römische Statthalter Pontius Pilatus und seine Soldaten für die Hinrichtung Jesu verantwortlich waren. Im Gegensatz dazu vermitteln die Kreuzwegstationen in der Kirche St. Johannes Enthauptung in Warburg (Ossendorf) den Mythos des Gottesmordes durch “die Juden”.

Das Neue Testament erwähnt den Begriff “Gottesmord” nicht. In Johannes 19,23 wird deutlich, dass römische Soldaten, die nur auf Anordnung von Pilatus handeln konnten, die Kreuzigung Jesu durchführten. Außerbiblische Quellen bestätigen, dass allein die Römer die Befugnis zur Vollstreckung der Todesstrafe hatten.1 Für Jüdinnen und Juden war die Kreuzigung ein Zeichen dafür, von Gott verflucht zu sein.2

Der Vorwurf des Gottesmordes behauptet in der Kirchengeschichte eine angebliche und unveränderliche Kollektivschuld der Jüdinnen und Juden an der Kreuzigung Jesu von Nazareth. Dieser Begriff wurde durch die Schriften des Bischofs Melito von Sardes geprägt.3 Der Vorwurf des Gottesmordes wurde schon vor der Anerkennung des Christentums als römische Staatsreligion zu einem festen Stereotyp in den Adversus-Iudaeos-Schriften frühchristlicher Theologen und Amtsträger. Zu diesen zählten unter anderem Prudentius, Hilarius von Poitiers, Gregor von Nyssa, Ambrosius von Mailand, Epiphanios von Salamis und Kyrill von Jerusalem.4 Dieses Stereotyp wurde zu einem Kernstück der christlichen Judenfeindlichkeit. Seit dem 2. Jahrhundert diente der Vorwurf der Kirche dazu, eine konstruierte religiöse Ablehnung und Verwerfung des Judentums zu rechtfertigen und um soziale Diskriminierung, Unterdrückung und Verfolgung jüdischer Menschen zu legitimieren. Das in der Volksfrömmigkeit verankerte Bild der Juden als “Volk der Gottesmörder” trug erheblich dazu bei, dass Judenfeindlichkeit zu einem kulturellen Code in der europäischen Geschichte wurde.5

Im 19. Jahrhundert entstand parallel zum Aufstieg des europäischen Nationalismus der moderne, sozialdarwinistische und rassistische Antisemitismus. Obwohl er sich bewusst vom religiösen Antijudaismus distanzierte und seine Judenfeindlichkeit pseudowissenschaftlich zu begründen suchte, behielt er dennoch das Stereotyp des Gottesmordes bei und beeinflusste maßgeblich auch das Bild von Jüdinnen und Juden innerhalb der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft des 20. Jahrhunderts. Die Gottesmordlegende wurde zur Rechtfertigung der Shoah verwendet und hat bis heute Auswirkungen.6 Diese Übertragung der Schuld an dem Tod von Jesus von Nazareth auf Jüdinnen und Juden wird eindrucksvoll durch die 1925 in Dortmund entstandenen Bilder der Kreuzwegstationen in der Kirche St. Johannes Enthauptung in Warburg (Ossendorf) deutlich.

Judenfeindliche Konsolfigur (A), Kirche Mariä Heimsuchung, Warburg (Altstadt)

Das Bild der ersten Station gewährt einen Blick in den Palast des römischen Statthalters. Pontius Pilatus wäscht sich die Hände und deutet damit an, dass er keine Verantwortung für die Verurteilung Jesu trägt. Historisch ist jedoch zu bestreiten, dass der römische Statthalter tatsächlich unschuldig am Urteil der Kreuzigung war, wie es diese Szene suggeriert.7 Nach der ersten Kreuzwegstation tauchen in den Darstellungen von Warburg (Ossendorf) – im Gegensatz zu den Evangelien und außerbiblischen Quellen – keine römischen Amtsträger oder Soldaten mehr auf. Sie sind nicht einmal als Hintergrundfiguren in den späteren Stationen der Kreuzigung präsent.

Die Figuren, die auf den Bildern die Kreuzigung durchführen, sind durch das Tragen eines Fez oder Turbans als orientalisch gekennzeichnet. Dies spiegelt eine zeitgenössische Vorstellung von historischen jüdischen Kleidungsstilen wider.8 Der Urheber der Werke könnte möglicherweise an die Mitznefet (מִצְנֶפֶת‎) gedacht haben, eine priesterliche Kopfbedeckung, die beim Tempeldienst getragen wurde. Diese wird vermutlich als Turban interpretiert, da das Wort von der Wurzel „umhüllen“ abgeleitet ist. Obwohl weder die Mitznefet noch der Fez jemals allgemein jüdische Kopfbedeckungen waren, wird durch diese Darstellung eine jüdische Identität der abgebildeten Personen signalisiert. Es handelt sich jedenfalls nicht um römische Soldaten. Die Botschaft der Bilder ist eindeutig: Jüdinnen und Juden werden für den Gottesmord verantwortlich gemacht.

Die Darstellung der Rollenverteilung bei der Kreuzigung, wie sie hier gezeigt wird, ist in der Kunst über viele Jahrhunderte hinweg weit verbreitet. Es ist wichtig zu erkennen, dass die Bilder in Warburg (Ossendorf) keine Ausnahme sind, sondern dass die Gottesmordlegende tief in der christlichen Theologie und Bildsprache verankert ist. In diesem Zusammenhang sollte auch hervorgehoben werden, dass Pogrome gegen Jüdinnen und Juden häufig direkt nach Karfreitagsprozessionen stattfanden. Die Verbreitung der Gottesmordlegende bot den Tätern Motivation und eine vermeintliche Rechtfertigung für ihre Handlungen.

Der Urheber der Prozessionsdarstellungen verwendet bei der Gestaltung der typischen Protagonisten vermeintliche physiognomische Merkmale, die seit dem späten 18. Jahrhundert zur rassistischen Unterscheidung zwischen Jüdinnen und Juden und anderen Menschen genutzt wurden. Zu diesen vermeintlichen Merkmalen zählen gebogene Nasen, enge Augenabstände und auffällige Gesichtszüge.9 Diese Darstellungen sind eng verknüpft mit rassistischen Vorurteilen gegen Jüdinnen und Juden, wie etwa dem Vorwurf von Hinterlist, Verschlagenheit, Triebhaftigkeit, Unbelehrbarkeit und heimlicher Machenschaften. Solche Merkmale finden sich auch heute noch im zeitgenössischen Antisemitismus wieder und treten besonders hervor, wenn sie im Vergleich zu tatsächlich oder vermeintlich nicht-jüdischen Figuren in den Kreuzwegbildern gezeigt werden.


Fußnoten

1 vgl. Theißen, Gerd / Merz, Annette (2011): Der Historische Jesus, Göttingen, Seite 500
2 vgl. Dtn 21,23; Gal 3,13
3 vgl. Blum, Matthias (2010): Gottesmord, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin, Seite 113 ff.

4 vgl. Isaac, Jules (1969): Genesis des Antisemitismus, Wien, Seite 122;
Bunte, Wolfgang (1989): Juden und Judentum in der mittelniederländischen Literatur (1100–1600), Frankfurt am Main, Seite 209

5 vgl. Rohrbacher, Stefan / Schmidt, Michael (1991): Judenbilder, Reinbek, Seite 8

6 vgl. Tarach, Tilman (2022): Teuflische Allmacht, Über die verleugneten Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus, Berlin

7 vgl. Lapide, Pinchas (1987): Wer war schuld an Jesu Tod?, Gütersloh, Seite 67 ff.

8 vgl. Braun/Schneider (1861): Zur Geschichte der Kostüme, Münchener Bilderbögen, München, in: https://www.siue.edu/COSTUMES/history.html, Stand: 27.6.2023

9 vgl. Schäfer, Julia (14.9.2004): Der antisemitische Stereotyp, Über die Tradition des visuellen „Judenbildes“ in der deutschsprachigen Propaganda, in: Zukunft braucht Erinnerung, in: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-antisemitische-stereotyp/, Stand: 14.6.2023

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