Beschreibung
Über die Meldefunktion von spuren-sichtbar-machen.de wurden wir im Juni 2023 auf Kreuzwegbilder in der Kirche St. Georg in Paderborn aufmerksam gemacht. Eine Sichtung der Objekte zeigte, dass Figuren darauf unter anderem an im Nationalsozialismus verwendete Darstellungsformen von Jüdinnen:Juden erinnern. Diesen ersten Befund teilte spuren-sichtbar-machen.de im noch im selben Monat dem Generalvikariat des Erzbistums Paderborn (Glaube im Dialog) mit.
Ende August 2023, zum Abschluss der Recherche, nahmen wir vor Veröffentlichung des inzwischen vorbereiteten Beitrags auf spuren-sichtbar-machen.de erneut Kontakt mit dem Generalvikariat des Erzbistums Paderborn (Glaube im Dialog) auf. Dieses informierte den zuständigen Pastoralverbund Paderborn Nord-Ost-West. Pastor Thomas Bensmann tat darauf in seiner Funktion als stellvertretender Leiter des Pastoralverbunds das aus antisemitismuskritischer Sicht Richtige: Er hängte die Bilder bis zur Klärung des weiteren Umgangs damit ab und informierte die Gemeinde sowie die zuständigen Gremien darüber, dass hier entsprechender Klärungs- und Handlungsbedarf besteht. Deshalb ist dieser Beitrag unser erster Beitrag ohne Abbildung der Objekte. Bei der ersten Sichtung vor Ort hatten wir Aufnahmen erstellt. Es wäre jedoch absurd, die in St. Georg nun endlich beendete Darstellung von rassistischer Judenfeindlichkeit hier zu reproduzieren.
Eine Dokumentation und Kontextualisierung unterscheidet sich aber von dem Werk selbst. Die richtige Entscheidung, die Objekte zu entfernen ersetzt nicht die notwendige Auseinandersetzung damit. Daher halten wir es für wichtig, diese Spur zu veröffentlichen, als ein Best-Practice-Model, das sich gerade auf den Weg macht.
Werke sind immer im Kontext ihrer Entstehungszeit sowie ihrer Verortung zu interpretieren. Die Grundsteinlegung für die Kirche St. Georg in Paderborn erfolgte am 26.4.1936. Fast exakt ein Jahr später wurde sie am 25.4.1937 als Filialkirche der Pfarrei Herz Jesu geweiht. Das Gotteshaus sollte Bewohner:innen im Westen der Stadt und Wehrmachtsangehörigen dienen. Das Reichskriegsministerium beteiligte sich finanziell an dem Bau. Noch 1937 werden zwei Sakristeien angebaut. Je eine für das Militär sowie die zivile Gemeinde. 1939 wurde St. Georg zur Pfarrei erhoben. Bei Bombenangriffen auf Paderborn wurde die Kirche 1945 zweimal schwer beschädigt. Bau und Weihe der Kirche St. Georg fallen damit in die Zeit des Kirchenkampfes der Nationalsozialisten gegen die christlichen Kirchen. Aktuelle Forschung zeigt, dass die Haltung der römisch-katholischen Kirche gegenüber der Ideologie des Nationalsozialismus weder einheitlich noch konsequent war.1
Die weit überwiegend ablehnende Haltung des römisch-katholischen Klerus gegenüber dem Nationalsozialismus richtete sich vor allem gegen das von diesem propagierte Neuheidentum und die damit verbundene Feindschaft gegenüber dem Christentum.2 (Nicht nur) Beim Antisemitismus bestand aber offenbar so etwas wie ein kleinster gemeinsamer Nenner und/oder Anschlussfähigkeit3. Dies fand (nicht nur) in den Kreuzwegbildern von St. Georg auch nach Ende des Krieges noch Ausdruck. Die in St. Georg Ende August 2023 abgehängten Kreuzwegbilder sind nach Auskunft des Teams Kunst des Erzbischöflichen Generalvikariats auf 1946 zu datieren. Urheber ist Wilhelm Sommer.4
Bei der Ausgestaltung der bei Prozessionsdarstellungen üblichen Protagonist:innen greift der Urheber auf unterstellte physiognomische Merkmale zurück, die seit Ende des 18. Jahrhunderts eine rassistische Unterscheidung zwischen Jüdinnen:Juden und anderen Menschen behaupteten und bereits seit 1886 von Rudolf Virchow und 1913 durch Maurice Fishberg widerlegt sind. Zu diesen angeblichen Merkmalen zählen gebogene Nasen, enge Augenabstände, wulstige Gesichter und leicht gelbliche Haut.5 Damit einher gehen rassistische Unterstellungen gegenüber Jüdinnen:Juden wie Hinterlistigkeit, Verschlagenheit, Triebhaftigkeit, Unbelehrbarkeit und das Wirken im Verborgenen. Diese Merkmale sind bis heute im zeitgenössischen Antisemitismus zu finden und treten besonders im direkten Vergleich mit tatsächlich oder vermeintlich nicht-jüdischen Protagonisten auf den Kreuzwegbildern von St. Georg hervor: Nicht nur der römische Stadthalter, sondern auch Jesus Christus selbst sind durch besonders helle Haut, gerade Nasen und insgesamt den rassistischen Ideen der Nationalsozialisten entsprechende Formen gekennzeichnet, die auf Betrachter:innen besonders edel, aufrichtig und erhaben wirken sollen.
Durch die Recherche von spuren-sichtbar-machen.de wurde ein Prozess angestoßen. Das Entfernen der Werke ist ein erster und aus Perspektive der Antidiskriminierungsarbeit richtiger Schritt. So kann diese Spur schon jetzt als ein Best-Practice-Beispiel gelten. Richtig ist aber auch, dass man in Gemeinde und Kirche noch am Anfang eines Prozesses steht. Es gilt Fragen zu stellen: Vordergründig ist da natürlich die Frage, was jetzt mit den Werken geschehen soll. Andere Fragen lassen sich nicht per Beschluss klären: Wie konnte solch eine Bildsprache nach Ende der Shoah in den liturgischen Gebrauch genommen und dann 77 Jahre lang nicht als rassistisch und antisemitisch identifiziert werden? Welche Konsequenzen sollte die Kirche daraus ziehen, dass sie bezüglich Judenfeindlichkeit offenbar blinde Flecken hat?
Der Gemeinde St. Georg empfehlen wir, nicht zu schnell mit neuer Farbe die Spuren der abgehängten Bilder zu übertünchen. Zumindest eine dieser markanten Spuren an der Wand eignet sich sicherlich dazu, einen Hinweis dazu anzubringen, was hier heute nicht mehr hängt und warum.
Nach Entstehung der Kreuzwegbilder gab es eine Reihe von Änderungen am Erscheinungsbild der Kirche innen wie außen. Beide Türme stammen von 1961. 1969 fand eine Innenrenovierung statt. 1990 erhielt sie ihr heutiges Gesicht u.a. durch den Einbau von Pfeilern, Änderung der Dachkonstruktion, Errichtung eines Baldachins über dem Altar, Einbau einer Tür vom Kirchenschiff zur Sakristei, Aufgabe der Taufkapelle und Entfernung der Beichtstühle. Wie kann erklärt werden, dass sich bei all diesen Maßnahmen niemand an den offensichtlich rassistischen und antisemitischen Darstellungen gestört hat?
vgl. Pastoralverbund Paderborn Nord-Ost-West: Geschichte der Gemeinde St. Georg, in: https://pv-paderborn-now.de/st-georg/geschichte/, Stand: 22.6.2023
Fußnoten
1 vgl. Knuth, Theresia (2006): Katholischer Kirchenkampf 1933-1945, Seminararbeit, Freie Universität Berlin (Friedrich-Meinecke-Institut), Berlin;
vgl. Kleyboldt, Sabine (23.9.2017): Hoch geehrt, nicht unumstritten, in: https://www.katholisch.de/artikel/14864-hoch-geehrt-nicht-unumstritten, Stand: 23.8.2023;
vgl. Kleyboldt, Sabine (4.9.2017): War der Kardinal ein Kollaborateur der Nazis?, in: https://www.katholisch.de/artikel/14629-war-der-kardinal-ein-kollaborateur-der-nazis, Stand: 23.8.2023
2 vgl. Mertens, Annette: Widerstand gegen das NS-Regime? Katholische Kirche und Katholiken im Rheinland 1933−1945, Portal Rheinische Geschichte, in: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/widerstand-gegen-das-ns-regime-katholische-kirche-und-katholiken-im-rheinland-1933%E2%88%921945/DE-2086/lido/57d13613522708.12312072, Stand: 23.8.2023
3 Bereits nach den ersten gegen Jüdinnen:Juden gerichteten Boykotten im Frühjahr 1933 war ein öffentlicher Protest seitens der Kirche ausgeblieben. Auch die Nürnberger Rassengesetze von 1935 riefen die Bischöfe nicht auf den Plan. 1937 veröffentlichte Papst Pius XI. eine Enzyklika, in der er Rechtsbrüche der Nationalsozialisten anprangerte und die Rassenlehre der Nationalsozialisten verurteilte. Dennoch kam es nach den Pogromen vom November 1938 nur vereinzelt zu Interventionen und Solidaritätsaktionen durch römisch-katholische Organe.
vgl. Mertens, Annette: Widerstand gegen das NS-Regime? Katholische Kirche und Katholiken im Rheinland 1933−1945, Portal Rheinische Geschichte, in: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/widerstand-gegen-das-ns-regime-katholische-kirche-und-katholiken-im-rheinland-1933%E2%88%921945/DE-2086/lido/57d13613522708.12312072, Stand: 23.8.2023
4 Von Wilhelm Sommer sind noch weitere Kreuzwegbilder im Erzbistum Paderborn registriert. Dazu gehören Werke von 1922-1924 in Hagen (St. Michael), 1947 in Nordenau (St. Hubertus) und 1950/51 in Bergkamen-Rünthe (Herz Jesu).
5 vgl. Schäfer, Julia (14.9.2004): Der antisemitische Stereotyp, Über die Tradition des visuellen „Judenbildes“ in der deutschsprachigen Propaganda, in: Zukunft braucht Erinnerung, in: https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-antisemitische-stereotyp/, Stand: 14.6.2023;
vgl. Gorelik, Lena: Die Top Ten der antisemitischen Vorurteile: Warum sie wahr sind, in: https://www.jmberlin.de/sites/default/files/jmb-journal-8-leseprobe-gorelik.pdf, Stand: 18.8.2023