Judenfeindliches Konsolfigurenprogramm in der evangelischen Kirche St. Viktor in Schwerte

Beschreibung

In der heute evangelischen Kirche St. Viktor in Schwerte finden sich Spuren einer jahrhundertealten judenfeindlichen Bildsprache. Ein Beispiel ist eine Gruppe von Konsolfiguren im Vierungsquadrat der Kirche. Eine der Figuren, nordöstlich am Vierungsquadrat, trägt eine spitze Kopfbedeckung, die gemeinhin als „Judenhut“ bezeichnet wird. Auf den ersten Blick wirkt diese Figur eher unauffällig und harmlos, und richtig ist: Der “Judenhut” allein ist noch kein Beleg für Judenfeindschaft. Historisch wurde er durchaus in verschiedenen Kontexten verwendet – beispielsweise auch für positiv konnotierte Personen aus der biblischen Überlieferung.1 Doch in St. Viktor genügt es nicht, die markierte Figur isoliert zu betrachten. Erst im Zusammenspiel mit den benachbarten Konsolfiguren wird die tiefere, problematische Bedeutung deutlich.

Wahrscheinlich sind die Konsolfiguren in St. Viktor der Bauphase II nach Dr. Salesch und damit dem 12. Jahrhundert zuzuordnen.2 Möglicherweise gehörten sie zu einem größeren Bildprogramm, denn an den Eckkonsolen der Querung sind Reste weiterer Figuren erhalten, die jedoch aufgrund ihres schlechten Erhaltungszustandes nicht mehr zu deuten sind. Neben der Figur mit dem “Judenhut” sind jedoch noch drei weitere Figuren erhalten:

Judenfeindliche Konsolfigur (A), Kirche Mariä Heimsuchung, Warburg (Altstadt)


Südöstlich befindet sich eine Figur mit einer Kopfbedeckung, die als Narrenkappe oder Gugel gelesen werden kann.

Die südwestliche Figur hält ein übergroßes Objekt in den Händen, welches sie scheinbar in den Mund führt oder an dem sie kaut.

Die nordwestliche Figur hält einen Krug in der Hand.

Zusammen müssen diese vier Figuren wohl als allegorische Darstellungen von Lastern verstanden werden: Die Figur mit der Narrenkappe steht für Spott und Torheit. Im Mittelalter war die Narrenkappe ein Symbol für den Narren, der gemäß Psalm 14 („Der Narr spricht in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott“) als Gegenbild zum Gläubigen galt. Die Figur mit dem übergroßen Objekt im Mund symbolisiert Völlerei. Die Essgeste ist ein typisches Motiv für dieses Laster und entspricht der mittelalterlichen Ikonographie. Die Figur mit dem Krug steht für Trunksucht – ebenso ein gängiges Attribut in der mittelalterlichen Lasterikonographie.

In diesem Zusammenhang ist die Figur mit dem Judenhut als Symbol für Unglaube zu deuten, sie steht für Blindheit, Ablehnung und den Mangel an Glauben.

Im mittelalterlichen Weltbild war die Kirche ein geistiger Kosmos, in dem Architektur, Skulptur und Bildprogramme als visuelle „Lehrbücher“ dienten. Besonders an Schwellenstellen wie der Vierung, dem Triumphbogen oder Chorschranken wurden Mahnbilder angebracht, die den Gläubigen zur inneren Läuterung aufforderten, bevor er den heiligen Altarraum betrat. Vergleichbare Bildprogramme finden sich unter anderem in der Kirche San Michele Maggiore in Pavia (Italien, 11. Jh.), an der Stiftskirche Saint-Pierre in Chauvigny (Frankreich, 12. Jh.) oder an der Kathedrale von Autun (Frankreich, 12. Jh.).

Die Einordnung der Figur mit Judenhut in das Umfeld der Todsünden stellt eine klare Abwertung und Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden dar. Sie werden so als Teil des Lasters, des Bösen und des zu überwindenden Übels stilisiert.

Zur Entstehungszeit der Konsolfiguren war eine judenfeindliche Sichtweise im christlichen Denken bereits seit Jahrhunderten weit verbreitet und theologisch legitimiert. Ein frühes und gleichermaßen einflussreiches wie drastisches Beispiel dafür sind die Predigten des Johannes Chrysostomos (ca. 349–407), die sich durch aggressive Judenfeindlichkeit auszeichnen. Er bezeichnete die Synagoge als Ort der Sünde, als „Bordell“ und „Wohnstätte der Dämonen“ und schrieb: „Die Synagoge ist schlimmer als ein Bordell, ein Ort des Lasters und der Teufelshöhle.“3

Solche Objekte sind mehr als steinerne Verzierungen. Sie waren in Stein gemeißelte Predigt – sichtbar, unausweichlich, lehrhaft. Sie vermittelten den Betrachter:innen ein klares Weltbild, das sich über Jahrhunderte in die Wahrnehmung eingeschrieben hat. Sie reproduzierten nicht nur bildlich eine judenfeindliche Theologie, sondern prägten nachhaltig das Bild von Jüdinnen und Juden. Generationen von Menschen lernten – oft unbewusst –, Juden mit Torheit, Laster und Gottlosigkeit zu assoziieren. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Die Konsolfiguren von St. Viktor in Schwerte sind nicht bloß „kulturelles Erbe“, sondern auch steinerne Zeugnisse eines über Jahrhunderte tradierten, kirchlich legitimierten Antijudaismus. Ihre kritische Kontextualisierung ist ein notwendiger Schritt, um diese Geschichte sichtbar zu machen und christliche Judenfeindschaft endgültig zu überwinden.

Gerade in Zeiten zunehmender antisemitischer Tendenzen ist es umso wichtiger, diese Bildsprache bewusst zu machen, historisch einzuordnen und ihr eine kritische Auseinandersetzung entgegenzusetzen.


Besonderer Dank gilt Frau Andrea Wegener (Domkustodin, Leiterin Domschatz Essen und Schatzkammer Werden) für ihre fachkundige Unterstützung bei der kunsthistorischen Einordnung und Datierung der Konsolfiguren.

Das judenfeindliche Konsolfigurenprogramm ist leider nicht die einzige judenfeindliche Objektgruppe in der evangelischen Kirche St. Viktor in Schwerte. Ein Beitrag zu der judenfeindlichen Bildsprache am Hochaltar der gleichen Kirche findet sich hier.

Fußnoten

1 siehe dazu unseren Beitrag “Red Flag: Der Judenhut” im Kontextbereich
2 vgl. Stirnberg, Reinhold (2009): Die St.-Victor-Kirche zu Schwerte, in: https://stirnberg.net/media/AS/Die%20St.-%20Victor-Kirche%20zu%20Schwerte%20Teil%201%20und%202%20%20AS%20%20Nr.%2052%20-%2053%20%209-00%20-%2012-00.pdf, Stand: 28.5.2025
3 Zitat: Homiliae adversus Iudaeos, zitiert nach der Übersetzung von Römer, Franz (1912): Johannes Chrysostomos: Homilien gegen die Juden, Reihe „Die Griechischen Christlichen Schriftsteller“ (GCS), Straßburg

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