Beschreibung
Seit der Veröffentlichung der Seite spuren-sichtbar-machen.de mit zunächst vier judenfeindlichen Objekten im Kreis Höxter am 27.3.2023 wurden der ada.kreis-höxter innerhalb eines Monats über hundert weitere Spuren gemeldet. Bei fast allen dieser Spuren christlicher Judenfeindschaft fand bis heute keine Kontextualisierung statt. Die Kirche St. Marien in Lemgo im Kreis Lippe ist hier eine positive Ausnahme.
Insgesamt finden sich zwei judenfeindliche Skulpturen in St. Marien zu Lemgo. Eine der Figuren ist Teil eines Paares im westlichen Atrium der Kirche. Vom Altar aus zur Linken befindet sich eine sogenannte “Judensau”. Vom Altar aus zur Rechten ist eine weitere Figur zu sehen, die als thronender Christus interpretiert werden kann.1 Eine weitere judenfeindliche Sandsteinfigur befindet sich vom Altar aus links an einer Säule, die auch die Kanzel der Kirche trägt.
Die um 1310 mit dem Bau der Kirche entstandenen Figuren sind durch das Tragen von Judenhüten als Juden kenntlich gemacht. Der Judenhut allein ist noch kein Beleg für eine judenfeindliche Interpretation der Figuren, denn auch positiv konnotierte jüdische Personen wurden zu dieser Zeit mit Judenhut dargestellt. Auch hierfür findet sich in St. Marien in Lemgo ein Beispiel. Es zeigt Maria, Jesus und Josef mit Judenhut.
Erst der Kontext, in dem der Judenhut gezeigt wird, macht diesen zu einem Attribut christlicher Judenfeindschaft. Dies wird deutlich an der Darstellung der Geißelung Christi an einer der Säulen. Sie zeigt Juden als Jesus geißelnde Personen. Hier wird der Mythos des Gottesmordes durch die Juden reproduziert, der weder in den Evangelien zu finden, noch historisch denkbar wäre. Er postuliert eine angebliche und unaufhebbare Kollektivschuld der Juden an der Kreuzigung des Jesus von Nazareth. Das in der Volksfrömmigkeit verankerte Bild der Juden als Volk der Gottesmörder trug wesentlich dazu bei, dass Judenfeindlichkeit ein kultureller Code der Geschichte Europas wurde.2
Unter dieser Figur hat der Kirchenvorstand eine Tafel zur Erklärung anbringen lassen. Hier wird deutlich gesagt, dass Juden zur Zeit der Hinrichtung Jesu weder die Durchführung noch die Beteiligung an Todesstrafen erlaubt war. Zu hinterfragen ist der Satz “Unser Verhältnis zum jüdischen Volk steht nach wie vor im Schatten der jahrhundertealten judenfeindlichen Haltung sowie der Judenverfolgung und des Mordes an Juden in den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland und in den okkupierten Gebieten”. Durch diese Aussage könnte der Eindruck entstehen, dass es vor 1933 keine Pogrome und Morde aus dem Motiv christlichen Judenhasses gegeben habe. Dies wäre nicht nur historisch falsch, sondern es relativiert die Folgen christlicher Judenfeindschaft über Jahrhunderte.
Eine besondere und durch die Kombination mit dem thronenden Christus mehrschichtige Beleidigung stellt die Lemgoer “Judensau” dar. Schon für sich genommen ist sie ein Affront, denn sie stellt einen Juden mit einem Ferkel vor sich im Arm dar. Es soll Juden verhöhnen, ausgrenzen und demütigen, da das Schwein im Judentum als unrein gilt. Schon früh wurden Juden von einigen Kirchenvätern als Schweine beschimpft. Im Jahr 388 übernahm Johannes Chrysostomos diese Beleidigung in acht Hetzpredigten. Dabei verglich er die angeblich schamlosen Bräuche der Juden mit Schweinen, Ziegen, lüsternen Zuchthengsten, Hunden, Hyänen und wilden Raubtieren, die Christen bedrohten. Trotzdem betonte er, dass Juden ihrer Natur nach immer noch Menschen seien, wenn auch der übelsten Art. Andere verglichen Juden mit Katzen, Eulen und Skorpionen und ordneten den Christen die reinen und den Juden die unreinen Tierarten nach biblischen Kategorien zu.3
Auch bei dieser Skulptur findet sich eine erläuternde Tafel:
Diese Tafel macht nicht nur deutlich, dass Jüdinnen und Juden bis heute antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sind. Sie verweist auch auf den Bezug dieser Figur zu dem benachbarten thronenden Christus.
Beide Figuren zusammen bilden eine Variation der Gegenüberstellung von Synagoga und Ecclesia, zwei allegorischen Figuren, die eine christliche Überlegenheit gegenüber dem Judentum kennzeichnen sollen. Eine Überlegenheitsphantasie, die sich schon bei Tertullian nachweisen lässt.4
Bemerkenswert ist der aktuelle Umgang mit den judenfeindlichen Skulpturen in Lemgo, denn die Kontextualisierung beschränkt sich nicht auf die beiden erwähnten Erklärtafeln. Im Internet findet man einen virtuellen 360-Grad-Rundgang durch die Kirche St. Marien in Lemgo mit erläuternden Texten zu den Objekten.5 Die Gemeinde hat erkannt, dass das einmalige Anbringen von Information und Distanzierung kein Abschluss der Auseinandersetzung mit diesem Erbe christlicher Judenfeindschaft darstellen kann. So werden die Objekte beispielsweise auch im Gemeindebrief thematisiert. Darüber hinaus wurden lokale Künstlerinnen und Künstler sowie Schulen eingeladen, die Figuren mit eigenen Werken zu kommentieren. Mit drei Karikaturen machte der Lemgoer Künstler Andy Wolff den Anfang. Diese Karikaturen werden derzeit in St. Marien ausgestellt.6
Urheber der hier gezeigten Grafiken “Antisemitismus entgegentreten!”, “Antisemitismus entsorgen!” und “Nein zu Antisemitismus!” ist der Illustrator, Grafiker und Autor Andi Wolff aus Lemgo.
Fußnoten
1 vgl. Shachar, Isaiah (1974): The Judensau, a medieval anti-jewish motif and its history, University of London, in: https://resources.warburg.sas.ac.uk/pdf/gmn70b2205729.pdf, Stand: 18.4.2023, Seite 16-17
2 vgl. Rohrbacher, Stefan / Schmidt, Michael (1991): Judenbilder, Reinbek, Seite 8
3 vgl. Schöner, Petra (2002): Judenbilder im deutschen Einblattdruck der Renaissance, Baden-Baden, Seite 189 ff.
4 vgl. Blum, Matthias (2010): Gottesmord, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin, Seite 7 ff.
5 vgl. Kleine, Ingo: St. Marien Lemgo 360° Tour, in: https://stadtrundgang-lemgo.de/marien360/, Stand: 17.5.2023
6 vgl. Altevogt, Matthias (2023): Die „Judensau“ vom Sockel stoßen? Neue Auseinandersetzung mit der antisemitischen Skulptur in der Marienkirche, in: Rund um St. Marien, Gemeindebrief der Evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde St. Marien in Lemgo, Ausgabe 260, März-Mai 2023