Judenfeindliche Konsolfigur im unteren Turmraum der röm.-kath. Kirche Mariä Heimsuchung, Warburg (Altstadt)

Beschreibung

Drolerien an westlichen Portalen von Kirchen des 13. und 14. Jahrhunderts werden häufig als Abwehrzauber gegen das Böse interpretiert. Die genaue Funktion solcher Figuren ist strittig. Allen Deutungsansätzen gemeinsam ist, dass derartige Wesen dem Bereich des Unheiligen, des Bösen, der Sünde etc. zugeordnet werden. Im unteren Turmraum der Kirche Mariä Heimsuchung in Warburg (Altstadt) verkündet eine von vier Konsolfiguren seit über 700 Jahren Judenhass.

Die judenfeindliche Chimäre der Altstadtkirche Warburg wird mit dem Bau der Kirche zwischen 1287 und 1297 datiert. Es handelt sich bei der Figur um ein Mischwesen, welches insgesamt eine gebeugte Haltung bei gleichzeitig aufrechten Haupt einnimmt. Der Kopf ist menschlich. Er zeigt auffallend große Augen. Die äußeren Augenwinkel laufen spitz aus und deuten leicht nach unten. In einem Auge ist ein Punkt dunkler als der Rest des Auges, auf dem anderen Auge fehlt dieses Detail. Es ist fraglich, ob der dunkle Fleck im linken Auge Bestandteil des ursprünglichen Zustands der Skulptur ist oder späteren Ursprungs. Hierzu sind keine Befunde bekannt. Eine restauratorische Untersuchung des Objekts wäre hierzu erforderlich. Die Augenbrauen folgen der Form der Augen und sind deutlich ausgearbeitet. Die Nase ist offenbar beschädigt. Die Lippen sind schmal, der Mund leicht geöffnet. Das Kinn wirkt breit und kräftig, die Ohren dreieckig und abstehend. Das Haar ist halblang und gelockt. Auf dem Kopf trägt die Figur einen halbkuglig, konisch zulaufenden Hut mit breiter Krempe. Der Hut sowie die Haare der Figur tragen erkennbar Spuren roter Färbung. Ein auffallend langer Hals verbindet den Kopf mit dem Rumpf der Figur. Der Körper wirkt rundlich. Die Haut scheint glatt. Auf dem Rücken ist eine Art Kante oder Kamm zu erkennen. Das Wesen trägt einen anliegenden Schwanz und verfügt über zwei am Hinterleib ansitzende Beine. Die Pfoten sind dreigliedrig ausgearbeitet. Das vom Betrachter abgewandte Bein ist dabei leicht nach vorn versetzt, so dass der Eindruck einer Bewegung entstehen kann, wobei die gebeugte Körperhaltung, der anliegende Schwanz und der gleichzeitig aufmerksam aufgerichtete Kopf auf ein Schleichen hindeuten könnten.

Judenfeindliche Konsolfigur (A), Kirche Mariä Heimsuchung, Warburg (Altstadt)
Judenfeindliche Konsolfigur (A), Kirche Mariä Heimsuchung, Warburg (Altstadt)


Als jüdisch zu identifizieren ist das Mischwesen aufgrund seiner Kopfbedeckung. Es handelt sich um einen sogenannten Judenhut. Der Judenhut allein ist kein Beleg für eine judenfeindliche Interpretation der Figur, denn es gibt aus dieser Zeit auch zahlreiche Darstellungen positiv konnotierter Personen mit Judenhut, beispielsweise den Hl. Josef. Die eindeutig judenfeindliche Deutung der Figur ergibt sich aus der Kombination mit dem Tierkörper, da sie Juden mit gefährlichen Monsterwesen verbindet. Hierdurch findet eine Identifikation mit dem Bösen statt. Typologisch steht die Skulptur in enger Verbindung zu den Höllendarstellungen in der früh- und hochmittelalterlichen Literatur, eine Vorstellung, die schon bei Johannes Chrysostomus im 4. Jahrhundert zu finden ist:

„Denn nicht einfach für Räuber und Diebesgesindel, sondern für Dämonen ist sie [die Synagoge] ein Unterschlupf, ja mehr, nicht nur die Synagogen [sind das], sondern die Seelen selbst der Juden; […] Mit Menschen also, sag mir, dämonenbesessenen, die so viele unreine […] Geister haben, die sich von Schlachtungen und Morden genährt haben, […]“1

Man muss sich an dieser Stelle bewusstmachen, dass die Menschen dieser Zeit sich das Böse keinesfalls abstrakt vorstellten. Dämonen, Fabelwesen, Mischwesen und Monster waren für sie keine Fiktion im Sinne heutiger Bücher, Filme oder Computerspiele. Die Menschen glaubten, dass es solche Wesen gab. Vielleicht nicht hier, aber sicher am Ende der bekannten (Um-)Welt.

Im Vergleich der vier Konsolfiguren des unteren Turmraums fällt auf, dass jeweils zwei Figuren ähnliche Körper haben. Jeweils eine davon trägt einen menschlichen Kopf. Der Körper der antijüdischen westlichen Chimäre zeigt wie die Konsolfigur B einen rundlichen und glatten Körper, auf dessen Rücken sich eine Art Kante oder Kamm abzeichnet. Die Körper verfügen über anliegende Schwänze und jeweils zwei am hinteren Teil des Körpers befindliche Beine mit erkennbar dreigliedrigen Pfoten oder Hufen. Die Hälse wirken auffallend lang und münden einmal in einen menschlichen, einmal in einen offensichtlich nicht menschlichen Kopf. Die beiden anderen Konsolfiguren C und D zeigen eine ähnliche Körpergestaltung, jedoch tragen beide erkennbare Flügel. Die Konsolfigur C scheint zusätzlich über eine menschliche Hand zu verfügen, mit der sie ihre Kopfbedeckung, offenbar den im 12. und 13. Jahrhundert sehr populären sogenannten Jagdhut, festhält. Die Köpfe der beiden Figuren mit nicht-menschlichen Häuptern zeigen offene Mäuler, große Augen mit nach unten deutenden Augenwinkeln und spitze, stehende (Figur B) und anliegende (Figur C) Ohren.

Genauer zu untersuchen wäre neben der Beziehungen der Figurengruppe im unteren Turmraum zueinander auch ihre Anordnung innerhalb der Gesamtkomposition des Gesamtbaus inklusive ihrer Beziehung zur antijüdischen Chimäre am Mittelbau des ehemaligen Dominikanerklosters. Aber auch innerhalb des Baus der Kirche Mariä Heimsuchung befindet sich die judenfeindliche Chimäre an einer besonderen Position. Wie bereits angemerkt finden sich monsterartige Drolerien häufig an den westlichen Portalen von Kirchen dieser Zeit. Eine Deutung der Position im Raum sollte aber auch unter Berücksichtigung des Umstands erfolgen, dass hier der denkbar größte Abstand zum Heiligen und Allerheiligsten des Kirchenbaus gegeben ist. Gleichzeitig ist dieser Figur der Blick zum Altar im Osten durch die östliche Konsole des unteren Turmraums versperrt. Ihr fehlt mit dem Blick zum Altar die Möglichkeit der Augenkommunion und damit einer in der Zeit der ihrer Entstehung gängigen Form der Teilhabe an der Eucharistie. Die hier bildlich ausgedrückte Botschaft ist eindeutig: Der Blick auf und das Erkennen von Christus sowie die Teilhabe am Corpus Christi sind ausgeschlossen, was die Personen vom Leib Christi trennte und somit ihre Erlösung verhinderte. Die Position der judenfeindlichen Skulptur verbildlicht im Raum den Vorwurf der Christen an die Juden, diese würden den Messias nicht erkennen.

Beim Erstellen von Bauwerken waren Objekte, wie die hier besprochene judenfeindliche Konsolfigur, den Preis in die Höhe treibende Posten. Lokale Handwerker waren mit solchen Aufträgen überfordert, hierzu brauchte es überregional tätige Spezialisten, die von Baustelle zu Baustelle zogen und ihr Können anboten. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass man sehr sorgfältig und gezielt gearbeitet hat; Geld war teuer zu dieser Zeit. Auftraggeber und Bauherren hatten genaue Vorstellungen von den Ausführen der Bauaufträge, denn solche Objekte hatten neben einer dekorativen vor allem eine verkündende Funktion: „In einer weithin analphabetischen Gesellschaft wurde der kommunikative Austausch zwischen der schriftkundigen Elite und dem illiteraten Volk in den Bereichen Herrschaft, Kultur und Religion in hohem Maße mittels symbolträchtiger Gesten, Zeichen und Bildformeln geleistet […] Für den religiösen Bereich wird die Vermittlung von Inhalten an Laien durch Bilder vor allem durch Augustinus und Gregor den Großen ausdrücklich bestätigt.“2

Erinnert sei in diesem Kontext an den im 13. Jahrhundert seine maximale Verbreitung findenden Mythos der Hostienschändung durch Juden sowie dessen unmittelbare Folgen: 1298 kam es zu Pogromen, die in ihrer Brutalität die bekannteren Kreuzzugpogrome von 1096 weit übertrafen. Judenfeindliche Darstellungen wie die hier besprochene Konsolfigur und die dadurch verbreitete Entmenschlichung trugen dazu bei, Juden mit dem Bösen zu identifizierten und brutal zu ermorden. 


In der Denkmaltopografie der Bundesrepublik Deutschland ist eine Abbildung der judenfeindlichen Skulptur zu finden. Im Text wird sie zusammen mit anderen Konsolfiguren am selben Bauwerk wie folgt beschrieben: „Der kreuzförmige Pfeileraufbau [des Turmraums] wird durch die Form der Gurte bestimmt. Diese lasten an den Wänden auf Konsolen mit vollplastischen Fabelwesen, die sich ähnlich am Mittelbau des Klosters […] finden.“3 Auf der folgenden Seite des Buches ist als Nummer 431 eine dieser Konsolfiguren gezeigt. Es handelt sich bei dieser jedoch nicht um die judenfeindliche Skulptur der westlichen Konsole, sondern um eine Figur an einer der anderen Konsolen. Seite 253 der Denkmaltopografie der Bundesrepublik Deutschland zeigt einen genordeten Grundriss und einen Längsschnitt der Altstädter Kirche Mariä Heimsuchung in Warburg.

Auch Rudolf Bialas und Karl Kuchenbuch beschreiben die Figur nur als Teil der Gruppe: „…die als Drachen und Fabelwesen mit Männerköpfen gestaltet sind.“4 Gezeigt wird auch dort eine der anderen Figuren.

Fußnoten

1 Zitat: Johannes Chrysostomus  (386/387), zitiert nach: Reicht, Christoph (2017): Antijudaistische Stereotype des Hoch- und Spätmittelalters an ausgewählten Beispielen der Bildsprache, Diplomarbeit, Universität Graz; in: https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/1973923/full.pdf, Stand: 7.11.2022, Seite 34
2 Zitat: Grün, Maria Ulrike (2008): Figurale Bauplastik an der Chorfassade von St. Stephan in Wien, Diplomarbeit, Universität Wien, in: https://core.ac.uk/download/pdf/11582372.pdf, Stand: 28.11.2022, Seite 12
3 Zitat: Denkmaltopographie der Bundesrepublik Deutschland, Denkmäler in Westfalen, Kreis Höxter, Band 1.1, Stadt Warburg, Seite 248
4 Zitat: Bialas, Rudolf / Kuchenbuch, Karl (2005): Die Pfarrkirche „Mariä Heimsuchung“ in Warburg – Altstadt, Westfälische Kunststätten, Heft 99, Hg.: Westfälischer Heimatbund, Münster, Seite 13

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