Beschreibung
Der Kreuzweg der römisch-katholischen Kirche St. Marien in Steinheim (Ottenhausen) ist ein Beispiel für die bildhafte Reproduktion antijüdischer Stereotype durch die Verlagerung der Schuld an der Kreuzigung Jesu von der römischen Besatzungsmacht auf „die Juden“.
Bereits in der ersten Kreuzwegstation wird eine gezielte visuelle Umdeutung deutlich. Das Bild zeigt den römischen Statthalter Pontius Pilatus, der sich – gemäß der Darstellung im Matthäusevangelium – die Hände in Unschuld wäscht.1 Jesus von Nazareth wird zeitgleich von einem römischen Soldaten und einem zivil gekleideten Mann abgeführt. Der Soldat tritt dabei in den Hintergrund, während der Zivilist durch seine Kleidung – insbesondere die turbanartige Kopfbedeckung – als Orientale und somit als Jude gedeutet werden kann. Zwei weitere Personen stehen bei Pilatus und tragen je eine Fasces – jenes römische Machtsymbol, das Disziplinargewalt und das Recht zur Vollstreckung der Todesstrafe ausdrückt.2

Diese eindeutige ikonographische Codierung – Pilatus mit römischer Amtsgewalt – legt nahe, dass die Verantwortung für die Hinrichtung Jesu bei der römischen Besatzungsmacht lag. Doch im weiteren Verlauf der Kreuzwegdarstellungen werden die römischen Soldaten zunehmend zurückgenommen. Sie treten nur an vier weiteren Stellen handelnd in Erscheinung. Zweimal greifen sie Jesus von Nazareth an – heben zum Schlag aus oder packen ihn am Arm –, wobei bei einer Szene nicht einmal klar ist, ob es sich um einen römischen Soldaten handelt. Das Tragen eines Schwertes spricht dafür, denn es ist zu berücksichtigen, dass das Tragen von Waffen – insbesondere Schwertern – für Juden unter römischer Herrschaft verboten war.3

Eine weitere Szene zeigt römische Soldaten beim Würfeln um die Kleider Jesu – eine Darstellung, die sich auf alle vier Evangelien stützt.4 In einer anderen Station erscheint der römische Hauptmann, der unter dem Kreuz bekennt, dass Jesus Gottes Sohn sei – eine Szene, die bei Markus, Matthäus und Lukas überliefert ist.5 Dieses Bekenntnis lässt die Römer am Ende als jene dastehen, die Jesus als Gottes Sohn anerkennen. Es dient somit zusätzlich dazu, die Schuldfrage weiter von der römischen Besatzungsmacht fort und auf „die Juden“ zu verschieben.
Die Kreuzigung selbst wird nicht durch diese römischen Figuren ausgeführt, sondern durch Zivilisten – deren Kleidung sie deutlich von den Soldaten unterscheidet. Überwacht wird das Geschehen durch Personen, die anhand von Kleidung und Kopfbedeckung als jüdische Würdenträger identifizierbar sind. Diese scheinen nicht nur zu beobachten, sondern auch aktiv einzugreifen und Anweisungen zu geben.

Die Bildsprache des Kreuzwegs konstruiert somit ein religiöses Narrativ, das die historische Verantwortung der römischen Besatzungsmacht relativiert und sie durch eine Kollektivschuldbehauptung gegen „die Juden“ ersetzt. Damit wird die sogenannte Gottesmordlegende reproduziert – die Vorstellung, dass das jüdische Volk kollektive Schuld an der Kreuzigung Jesu trage. Diese Vorstellung geht auf den Kirchenvater Melito von Sardes zurück und wurde ein zentraler Bestandteil christlicher Judenfeindlichkeit.6
Seit dem 2. Jahrhundert wurde der Gottesmordvorwurf theologisch fundiert, sozial verbreitet und kulturell verankert. Er diente als ideologisches Werkzeug, um Juden systematisch auszugrenzen, zu verfolgen und Gewalt gegen sie zu legitimieren. Diese religiös aufgeladene Vorstellung vom „Volk der Gottesmörder“ wurde über Jahrhunderte tradiert und fand ihren grausamen Höhepunkt in der Shoah. Doch damit endete ihre Wirkung nicht. Die Gottesmordlegende wirkt in vielen Ausprägungen bis heute fort – ob in christlich geprägten Milieus, in verschwörungstheoretischem Antisemitismus oder in populären Darstellungen religiöser Geschichte. Sie ist eine zentrale Wurzel des modernen Antisemitismus und trägt wesentlich zu seinem Fortbestand bei.7
Die Analyse des Kreuzwegs von St. Marien in Steinheim macht deutlich, wie tief antijüdische Deutungsmuster in der christlichen Kunst und Theologie verankert sind. Sie zeigt auch, wie notwendig eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Traditionen ist – nicht nur im Hinblick auf die historische Verantwortung, sondern auch mit Blick auf ihre gegenwärtige Wirkung. Nur durch ein klares Bewusstsein über die antisemitischen Grundlagen solcher Darstellungen lassen sich ihre zerstörerischen Spuren erkennen und überwinden.
Die teilweise eingeschränkte Bildqualität bitten wir zu entschuldigen. Sie ist den äußerst schwierigen Lichtverhältnissen in der Kirche geschuldet, die eine fotografische Dokumentation nur unter suboptimalen Bedingungen ermöglichen.
Der Beitrag “Die Gottesmordlegende: Grundlage für judenfeindliche Passionsdarstellungen über Jahrhunderte” in unserem Kontextbereich stellt die Urprünge und Entwicklungen der Gottesmordlegende ausführlich dar.
Fußnoten
1 vgl. Matthäus 27,24
2 vgl. Bringmann, Klaus (2007): Römische Geschichte: Von den Anfängen bis zur Kaiserzeit, München
3 vgl. Smallwood, E. Mary (1976): The Jews under Roman Rule: From Pompey to Diocletian, A Study in Political Relations, Leiden
4 vgl. Matthäus 27,35; Markus 15,24; Lukas 23,34; Johannes 19,23–24; Psalm 22,19
5 vgl. Markus 15,39; Matthäus 27,54; Lukas 23,47
6 vgl. Blum, Matthias (2010): Gottesmord, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Band 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin
7 vgl. Rohrbacher, Stefan / Schmidt, Michael (1991): Judenbilder, Reinbek, Seite 8;
vgl. Tarach, Tilman (2022): Teuflische Allmacht, Über die verleugneten Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus, Berlin