Beschreibung
An den Zwillingskonsolen, die die Skulpturen von Maria und Elisabeth an der Nordseite des Chors im Dom zu Xanten tragen, sind zwei Szenen zu sehen: Die linke Szene, unter der Marienskulptur, stellt eine Figur eines Juden dar, begleitet von einer Sau und einem kleineren Wesen. Der Jude, halb kniend und zur Mitte gewandt, trägt lediglich kurze, gegürtete Faltenhosen und ist ansonsten unbekleidet. Sein Gesicht mit Schläfenlocken, Kinnbart, herabhängenden Augenbrauen und geöffnetem Mund blickt dem Betrachter entgegen. Eine Sau beißt in die als Judenhut zu identifizierende Kopfbedeckung dieser Figur, dabei stützt die Sau ihr Vorderbein auf die Schulter dieser Figur. Darunter kauert ein weiterer kleiner Jude, der eine Zitze der Sau saugt. Dieser „Ferkeljude“ ist nackt bis auf ein Kleeblatt über seinem Gesäß und trägt einen Hut, der dem des bärtigen Juden ähnelt, jedoch mit abgebrochenem Schaft. Die Darstellung wird ergänzt durch einen Löwen, der auf dem Flügel des Drachen sitzt und in dessen Zehen beißt, während der Drache wiederum in das Hinterbein des Löwen beißt.
Die Datierung der beiden Konsolen des Xantener Doms ist ziemlich genau. Sie wurden zwischen 1263 und 1267 geschaffen.1
Isaiah Shachar zufolge lassen sich die beiden Konsolen durch ihre wechselseitige Beziehung und ihre Verbindung zu den Skulpturen, die sie tragen, interpretieren: Die Darstellungen des Juden mit der Sau sowie des Drachen mit dem Löwen scheinen als eine Umkehrung der über ihnen abgebildeten Heimsuchungsszene gedacht zu sein: Oben die Begegnung von Maria und Elisabeth, unten – in dieser „verkehrten Welt“ – zwei finstere Begegnungen. Die Ähnlichkeit in der Komposition zwischen den letzteren ist so groß, dass kein Zweifel daran bestehen kann, dass sie sich ergänzen. Der Kampf zwischen dem Löwen und dem Drachen stellt einen Kampf zwischen den Mächten des Bösen dar. Beide Kämpfer sind Symbole des Teufels und die Szene erinnert an Worte des Augustinus.2
Die beiden Figuren verkörpern nach Isaiah Shachar die doppelte Bedrohung durch den Teufel, der die Gläubigen entweder offen angreift oder heimlich auf sie lauert. Auch die Szene mit der Sau und dem Juden stellt eine Begegnung des Bösen dar, jedoch mit einem satirischen Unterton. Die Sau scheint den Judenhut irrtümlich für ein mit Futter gefülltes Behältnis zu halten und beißt gierig hinein. Zugleich ist sie selbst das Ziel eines weiteren Fressgierigen, des „Judentiers,“ das an ihrer Zitze saugt. So werden sowohl der Jude als auch die Sau gleichzeitig ausgesaugt – ähnlich wie in der benachbarten Szene, in der Löwe und Drache sich gegenseitig beißen. Gier ist in dieser Szene das zentrale Motiv, während in der anderen die wilde Aggression im Vordergrund steht. Anders gesagt: Während eine Darstellung bösartige Wildheit verkörpert, betont die andere das Laster der Völlerei, der Gier und/oder Begierde. Der halbnackte Körper des Juden und der nackte des „Judenferkels“, typische Merkmale eines Trunkenbolds oder des Promiskutiven, deuten darauf hin.3
Die Darstellung von Juden mit einer Sau stellt nicht nur eine Verleumdung und Verspottung des Judentums dar. Sie greift gleichzeitig das jüdische Selbstverständnis an, da Schweine nicht koscher sind. Durch das Saugen an den Zitzen des Schweins wird das Toragebot gebrochen. Die Anwesenheit von Juden in Xanten ist mindestens seit dem ersten Kreuzzug von 1096 dokumentiert, als Juden aus Köln dorthin flohen, um sich vor Angriffen der Kreuzfahrer zu schützen. Doch auch in Xanten wurden sie im selben Jahr angegriffen, und etwa sechzig von ihnen begingen Selbstmord, um einer erzwungenen Taufe zu entgehen. Im Jahr 1197 wurden sechs Juden aus Neuss, die wegen des angeblichen Mordes an einem christlichen Mädchen hingerichtet worden waren, in Xanten begraben. Hinweise auf eine jüdische Gemeinde gibt es dort auch am Ende des 13. und im 14. Jahrhundert.
Eine solche Darstellung ist und bleibt eine Beleidigung für jüdische Mitbürger:innen. Es handelt sich um beschämende Äußerungen, die Menschen abwerten, Diskriminierung und Pogrome provozieren und als Motive für die Schoah dienten, wie die Propsteigemeinde St. Viktor Xanten in einer Stellungnahme vollkommen richtig schreibt. Sie distanziert sich in dieser Stellungnahme von Antijudaismus und Antisemitismus und bezeichnet die in Stein gehauene Verunglimpfung als Teil der dunklen und beschämenden Aspekte der christlichen Glaubensgeschichte. Mit der 1966 zur Erinnerungsstätte für Märtyrer und Opfer des Nationalsozialismus erweiterten Krypta setzte die Gemeinde einen Gegenpol zu der menschenverachtenden Skulptur im Chorraum. Im Eingangsbereich zu der Krypta ist auch die Stellungnahme der Propsteigemeinde St. Viktor Xanten zu der im Hochchor befindlichen Schmähskulptur zu finden.
Fußnoten
1 vgl. Bader, W. (1964): Sechszehnhundert Jahre Xantener Dom, Vom ersten Baumeister der gotischen Stiftskirche (1263 bis 1280), Köln, Seite 103-120)
2 „Videris unde, videris quomodo; diabolus ille biformis est. Leo est in impetu, draco in insidiis. Leo minetur, inimicus est“ (Sie sehen von wo, Sie sehen wie; Dieser Teufel hat zwei Gesichter. Der Löwe ist im Angriff, der Drache in den Fallen. Löwe ist bedrohlich, er ist ein Feind)
3 vgl. Shachar, Isaiah (1974): The Judensau, a medieval anti-jewish motif and its history, University
of London, in: https://resources.warburg.sas.ac.uk/pdf/gmn70b2205729.pdf, Seite
17 ff., Stand: 6.11.2024