Kein Objekt im materiellen Sinn, aber dennoch eine Spur judenfeindlicher Einstellungen ist der in vielen Regionen weltweit gängige Brauch, zu Ostern eine Judaspuppe zu verbrennen. Dieser Brauch begegnet uns auch in Westfalen. In einer Broschüre für die SABRA (Antidiskriminierungsberatungstelle in Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf) von 2021 konnten sieben bzw. fünfzehn Belegorte aus dem Landkreis Olpe bzw. dem Märkischen Kreis für das 21. Jahrhundert ausfindig gemacht werden. Vereinzelt findet sich der Brauch auch in anderen westfälischen Regionen. Dabei ist die Ausgestaltung immer dieselbe: Am Ostersonntag wird ein Scheiterhaufen aufgerichtet, auf dem eine Puppe oder ein Baumstamm angebracht und verbrannt werden. Diese Puppe oder dieser Stamm werden in der Regel, wenn auch nicht immer, mit Judas Iskariot identifiziert, dem biblischen Verräter Jesu. Der Brauch trägt den schlichten Titel „Osterfeuer“ oder im niederdeutschen Dialekt „Poskefuier“, in unterschiedlichen Schreibweisen. Allerdings wird längst nicht auf jedem Osterfeuer eine Judaspuppe verbrannt.
Aufnahme: Seidfeld (2004), Fotograf: Dirk Hagedorn, Sundern, Lizenz: CC-BY 2.0 DE
Antisemitisch ist dieser Brauch wegen der in der Judasfigur enthaltenen Semantik. Seit der Spätantike wurde Judas immer wieder pauschal mit Jüdinnen*Juden identifiziert und zu ihrem Exponenten stilisiert. Entscheidend ist, dass mit beiden pejorative Motive von Gier, Verrat, Teufelskumpanei und Gottesmord assoziiert werden; die Namensähnlichkeit, die im Übrigen zufällig ist, befördert die Identifikation. Sinn und Zweck der Verbrennung von Judaspuppen auf Osterfeuern ist es, den Apostel für seinen Verrat an Jesus Christus zu bestrafen, ihn gewissermaßen hinzurichten. In der christlich-antijüdischen Tradition soll Judas den Erlöser an die Jüdinnen*Juden verraten haben, die ihn ermordet haben sollen. Die Passionsgeschichte in den Evangelien ist freilich komplexer, spricht eindeutig von der römischen Besatzung unter Pontius Pilatus als Verantwortliche für die Kreuzigung und von jüdischen Hohepriestern als jene, denen Judas seinen Herrn „ausgeliefert“ haben soll, und nicht pauschal von Jüdinnen*Juden. In der Tradition verschmolzen Judas, die Hohepriester und andere jüdische Gruppen aus der Zeit Jesu jedoch zu „den Juden“, die anstelle Roms den Heiland ermordet haben sollen. An dieses Narrativ, das ebenfalls seit der Antike existiert, knüpft der Brauch des Judasfeuers an.
In anderen Regionen wird die Identifikation von Judas und Jüdinnen*Juden bei diesem Brauch auch offen artikuliert. Erst 2019 löste die polnische Kleinstadt Pruchnik einen internationalen Skandal aus, als die ansässige Bevölkerung eine Judaspuppe mit stereotypisch „jüdischen“ Merkmalen aus antisemitischer Sicht gestaltete: mit Hakennase, Schläfenlocken und jüdisch-orthodoxer Haartracht. Dieser Judas-Jude wurde dort nicht nur verbrannt, sondern auch aufgehängt, geschlagen und geköpft. Auch in Deutschland wurden früher in vielen Regionen beim Oster- bzw. Judasfeuer der „Jud“ oder der „ewige Jude“ verbrannt. Ob ein Zusammenhang mit mittelalterlichen Verbrennungen von Jüdinnen*Juden besteht, ist unklar. Zuletzt ereignete sich das im Jahr 1510 im Kontext des Berliner Hostienschändungsprozesses. Da in Deutschland frühestens 1594 im oberbayerischen Weilheim ein Judasfeuer belegt ist, scheint ein Zusammenhang unwahrscheinlich. Nichtsdestoweniger zeigt sich gerade an der Tatsache historischer Judenverbrennungen, wie unsensibel der Fortbestand derartigen Brauchtums ist.
Aufnahme: Meschede (1979), Archiv für Alltagskultur in Westfalen, Sammlung Bildarchiv, Inv.-Nr. 0000.76717, Fotograf: Dietmar Sauermann
In Westfalen ist es erstmals 1892 belegt. In einer Sammlung westfälischer Brauchtümer, die der Theologe und Dichter Peter Sömer veröffentlichte, heißt es lapidar: „In dem Allendorfer Osterfeuer steht ein großer Tannenbaum mit einem Sacke, das ist der Judas, der verbrannt wird.“ Von da breitete sich der Brauch über das ganze katholische Sauerland aus. Der von Sömer erwähnte Sack ist auch in anderen Orten überliefert. Oft werden darin 30 Steinchen oder Kupferplättchen gegeben, die die 30 Silberlinge darstellen: den Lohn, den Judas von den Hohepriestern laut dem Matthäusevangelium für seinen Verrat erhalten haben soll. Dieser sprichwörtliche Judaslohn verweist auf das Motiv des Apostels, der von Habgier getrieben worden sein soll. Seit der Spätantike werden auch Jüdinnen*Juden immer wieder mit dem Stereotyp der Habgier in Verbindung gebracht. Auch in der mittelalterlichen Ikonographie begegnet der Geldsack als typisches Attribut des Judas – und vielfach auch des stereotypischen „Juden“. Gelegentlich wurde beim Osterfeuer zudem das „Judaslied“ gesungen, das das Motiv der Gier ebenfalls ausschlachtet:
Judas was en sliemen Keerl,
Hai käik met äinem Aeuge scheel.
Hai harr en ganzen
Sack vull Geld,
Un däh domet, bat em gefellt.
Dün aarmen Liuen gonnt hai nicks,
Hai schrappert in de Taske ficks.
Hai hiät dün laiwe Heern verrohn,
Drüm‘ sall hai niu im Fiuer brohn.
Lot us diärüm‘ nit geyzig seyn,
Dat vey nit spüärt
de Höllenpeyn.
Ins Standarddeutsche übertragen: „Judas war ein schlimmer Kerl, er schielte mit einem Auge. Er hatte einen ganzen Sack voll Geld und tat damit, was ihm gefiel. Den armen Leuten gönnte er nichts, er scharrte es schnell in die Tasche. Er hatte den lieben Herrn verraten, darum sollte er nun im Feuer braten. Lasst uns darum nicht geizig sein, damit wir nicht die Höllenpein spüren.“
Hinweise auf Versuche der Vereinnahmung des Brauchs durch den Nationalsozialismus finden sich für Westfalen – im Unterschied zu Oberbayern – keine. Das Interesse galt zu der Zeit eher dem vermeintlich germanisch-heidnischen Ursprung der Osterfeuer – ein Konstrukt, das maßgeblich von Jacob Grimm im 19. Jahrhundert geprägt und popularisiert wurde, allerdings unhistorisch ist: Die ältesten Osterfeuer sind erst seit dem 16. Jahrhundert belegt, als das germanische Heidentum seit Jahrhunderten verschwunden war. Dennoch wird dieser Mythos bis heute tradiert und begegnet immer wieder. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Brauch der Judasverbrennung nicht nur im Sauerland erhalten, sondern weitete sich bis ins Münsterland aus; einen Bruch durch den Krieg gab es also nicht. Ein Einschnitt ist erst seit den 1980er Jahren festzustellen, als aus kirchlichen Kreisen erstmals Kritik am antisemitischen Charakter des Brauchs formuliert wurde. Sogar der Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt klinkte sich ein und sprach sich 1988 gegen diesen Brauch aus. In vielen Orten des Hochsauerlandkreises, des einstigen Hotspots, wurde er eingestellt oder zumindest um die Judaspolemik bereinigt. In anderen Orten finden sich antisemitische Spuren allerdings noch in gegenwärtigen Osterfeuern.
Dieser Beitrag wurde verfasst von:
Dr. Andreas Rentz
Institut für Zeitgeschichte
Zentrum für Holocaust-Studien
Leonrodstr. 46b
80636 München
Titelbild:
Fotograf: Dirk Hagedorn, Sundern
Lizenz: CC-BY 2.0 DE