Beschreibung
Seit der Veröffentlichung der Seite spuren-sichtbar-machen.de wurden uns über 120 weitere Spuren gemeldet. Einige davon sind offensichtlich als judenfeindlich zu interpretieren. Andere nicht. Und es gibt Spuren, bei denen wir feststellen müssen, dass sich die Frage nach in den Werken verborgener Judenfeindlichkeit(en) beim derzeitigen Stand der Forschung nicht abschließend beantworten lässt, es jedoch Indizien gibt, dass es sich um judenfeindliche Inhalte handeln kann. Hierzu gehört das Tympanon des südlichen Portals der Pfarrkirche St. Marien in Steinheim. Bei der ikonographischen Deutung des Objekts wurden wir unterstützt von Prof. Dr. Ulrike Heinrichs (Universität Paderborn) und Prof. Dr. Thomas Weigel (Universität Münster). Ohne diese Unterstützung wäre dieser Beitrag nicht möglich gewesen. Vielen Dank!
Lassen wir Prof. Dr. Ulrike Heinrichs das Objekt aus dem 12. Jahrhundert beschreiben: „In der Mitte des Bogenfelds oder Tympanons über dem Portal der Steinheimer Kirche ist die Majestas Domini (‚Allmacht Gottes‘) dargestellt: Christus thront über dem Regenbogen; er streckt die rechte Hand zum Segens- oder Redegestus aus; in seinem Schoß hält er mit der linken Hand ein geöffnetes Buch. Die ‚Vier Wesen‘ aus der Theophanie-Vision des Propheten Ezechiel, die in der Apokalypse wiederkehren und im Mittelalter auch als Evangelistensymbole gedeutet wurden, umgeben den thronenden Christus. […] Um das zentrale Bild herum sind in einer Kehle neun kreisförmige Motive angeordnet. Soweit erkennbar stellen diese zum einen Gestirne, zum anderen Pflanzen dar. An diesen Naturmotiven wie auch im Bereich der Figuren wird im Steinheimer Relief eine vereinfachende, stilisierte Darstellungsweise eingesetzt, wie sie für die romanische monumentale Skulptur in Westfalen insgesamt charakteristisch ist. […] Die beiden Kopffiguren in den Ecken des Tympanons, unterhalb des zentralen, durch eine erhabene Rahmung abgesetzten Gottesbildes, die jeweils einen bartlosen […] Mann darstellen, bilden ein seltenes oder sogar einzigartiges Motiv und heben das Steinheimer Portalrelief aus der großen Zahl der auch als ‚romanisches Gottesbild‘ bezeichneten Darstellungen der Majestas Domini heraus. Die beiden Kopffiguren sind einander zugewandt und – über ihre Münder – durch eine von links nach rechts entwickelte Ranke miteinander verbunden. Die vom Betrachter aus rechts angeordnete Figur ist durch den sog. Judenhut als Jude gekennzeichnet.“
Nach Prof. Dr. Ulrike Heinrichs handelt es sich um eine Einordnung der Jüdinnen:Juden in das christozentrische Weltbild der mittelalterlichen Kirche. Dies hat sowohl ausschließenden als auch einschließenden Charakter. Verschiedene Details im Relief verweisen dabei auf eine hierarchische Ordnung zuungunsten des dargestellten Juden. Prof. Dr. Thomas Weigel benennt eine möglicherweise (auch) auf Mt 25,31-46 bezugnehmende Seitenhierarchie zwischen den beiden Köpfen als eines dieser Details. Diese Ordnung ist auch häufig an Ecclesia-Synagoga-Darstellungen zu finden. Auch wenn es sich in Steinheim um keine Ecclesia-Synagoga-Darstellung handelt, ist es eine Gegenüberstellung von Christ:innen und Jüdinnen:Juden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Platz ‚zur Linken‘, der in Steinheim dem Juden zugewiesen ist, nicht grundsätzlich einen Platz der Schande darstellt, sondern auch als zweithöchster Platz angesehen werden kann, wie Prof. Dr. Ulrike Heinrich anmerkt.
Prof. Dr. Ulrike Heinrichs liest den Kopf gegenüber dem Juden als „bartlosen, also als ‚jugendlich‘ anzusprechenden Mann. […] Die […] barhäuptige Figur ist durch die halblangen und an den Spitzen aufgerollten Haare, eine im hohen Mittelalter bei Männern übliche modische Frisur, als Vertreter des Laienstands zu erkennen. Im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang der bildlichen Komposition kann er als Vertreter der Christianitas, also der Gesamtheit der Gläubigen des Christentums, gedeutet werden, wie der Mann mit dem Judenhut die Synagoge, das Judentum, repräsentiert.“ Prof. Dr. Thomas Weigel rät zu einer genauen Begutachtung des Objekts vor Ort. Er hält es für möglich, dass der Kopf tonsuriert ist und einen Mönch bzw. Kleriker darstellt. In diesem Fall bekäme ein weiterer Hinweis von ihm einen zusätzlichen Zusammenhang: Die Ranke ist möglicherweise ein Symbol für eine blütenreiche Rede (oratio florida), konkret im Sinne einer missionierenden christlichen Predigt gegenüber Jüdinnen:Juden. Die Ranke ersetzt die Zunge bzw. den Redefluss wie in modernen Comics die Sprechblasen.
In diesem Kontext muss an Entwicklung und Praxis der Judenmission (bis) zur Entstehungszeit des Tympanons erinnert werden: Vom 6. Jahrhundert bis zum Jahr 1150 waren Zwangstaufen von Juden durch zahlreiche Sicut-Iudaeis-Bullen verboten. Die Päpste erlaubten lediglich die missionarische Tätigkeit gegenüber Juden in Form von Predigten. Nach einer kurzen Blütezeit im 10. Jahrhundert wurden die europäischen Judengemeinden durch die Kreuzzüge im 11. und 12. Jahrhundert weitgehend zerstört. Während dieser Zeit wurden Jüdinnen:Juden vor die Wahl gestellt, entweder getauft zu werden oder den Tod zu erleiden, was in den meisten Fällen zu Massenmorden führte. Ab dem Jahr 1150 begannen kirchliche Vertreter damit, jüdische Gemeinden zu öffentlichen Disputationen über die Messianität von Jesus Christus zu zwingen. Jüdische Talmudschulen bildeten daraufhin spezialisierte Disputanten aus. Trotz dieser Entwicklungen blieb für jüdische Gemeinden oft nur die Wahl zwischen Unterwerfung oder dem Scheiterhaufen.
Es scheint, als sei der Kopf des Juden mit geschlossenen Augen dargestellt, was Blindheit andeuten würde, während der linke Kopf geöffnete Augen hat. Die Unterstellung einer Blindheit gegenüber Jüdinnen:Juden findet sich bereits in der Antike. Unter anderen von Origenes sind gegen Juden gerichtete christliche Schriften überliefert. Sein Werk Contra Celsum ist nur ein Beispiel dafür, wie die jüdische Ablehnung des Evangeliums seit der Antike kritisiert wurde und (bis heute) als eine Form der geistlichen Blindheit dargestellt wird. Auch zur Klärung der Frage, ob die Augen des Juden geschlossen oder offen dargestellt sind, ist eine Beurteilung von Fachleuten vor Ort erforderlich.
Ein genauerer Blick auf die Ranke zeigt bemerkenswerte Details: Auffällig ist, dass die Symboltiere Löwe und Stier mit ihren Tatzen bzw. Hufen nicht durchgehend die horizontale untere Abschlussleiste des Tympanons als Standfläche nutzen, sondern dass sie diese eigentlich trennende Grenze gegen alle Gewohnheit überschreiten und dadurch in direkten Kontakt zu der Blattranke treten. Diese scheint Weintrauben und möglicherweise daneben auch Blüten hervorzutreiben, auch wenn die Blattformen eine eindeutige botanische Identifikation nicht erlauben. Durch die spezifischen Früchte ist mutmaßlich ein Bezug zum eucharistischen Mahl gegeben. Durch die direkte Berührung der beiden Evangelistensymbole mit der Ranke wird nach Prof. Dr. Thomas Weigel auch ein semantischer Konnex zwischen den Verkündern des Evangeliums – alle zeigen geöffnete Bücher – und der Pflanze im Bild suggeriert. Auch Prof. Dr. Ulrike Heinrichs findet dieses Detail bemerkenswert. Sie sieht hier eine Bestätigung, dass das Bild die Beziehung des christlichen Laien und des Juden zur Majestas Domini verhandelt.
Insgesamt lässt sich das Tympanon beim derzeitigen Stand der Forschung nicht vollständig und/oder zweifelsfrei interpretieren. Umso wichtiger ist es, den Erkenntnisstand durch weitere Forschung zu mehren und sich als Besitzer:in gleichzeitig deutlich und sichtbar von jeder Art von Judenfeindschaft zu distanzieren.
Das hier beschriebene Portal befand sich ursprünglich an einer anderen Stelle des Baus. Prof. Dr. Thomas Weigel fasst dessen Geschichte zusammen: “Das Portal mitsamt dem Tympanon befand sich bis 1879 in der südlichen Stirnwand des noch romanischen Südquerhauses der Kirche, wo es 1853 von Wilhelm Lübke beschrieben wird. Anschließend wurde es in die Südwand des Westjoches des 1665 errichteten südlichen Seitenschiffes versetzt. Eine starke ‘Erneuerung’ wird schon von Albert Ludorff (1914) konstatiert. Eine weitere ‘Überarbeitung’ bzw. ‘starke Erneuerung’ (Dehio Westfalen 1986; vgl. die revidierte Neuausgabe von 2011) ist für die Jahre 1963-66 bezeugt. Inwieweit diese Eingriffe in die originale Substanz auch die beiden Köpfe in den Ecken des Tympanons oberhalb seines Basisgesimses betreffen, bedürfte einer eingehenden Überprüfung.”