19. Jahrhundert
5561 – 5661

 1808 n. Chr. / 5569
    • Napoleon Bonaparte entzieht mit dem Decrét Infâme die den männlichen Juden zugesprochenen Bürgerrechte und schränkt so deren Vermögensrechte, Gewerbe- und Bewegungsfreiheit mit dem Ziel ein, Jüdinnen:Juden über einen Dauer von zehn Jahren zu Mitgliedern der christlichen Gesellschaft „erziehen“ zu können.
    • Das Dekret wurde 1818 aufgehoben und trotz dieser temporären Einschränkung von Rechten wurden Jüdinnen:Juden zumindest formal in die französische Gesellschaft integriert

1819 n. Chr. / 5580
    • Auf ähnliche Ansätze der staatsbürgerlichen Emanzipation von Jüdinnen:Juden in Preußen, wie sie im Edikt betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden festgehalten wurden und von Wilhelm von Humboldt auf den Deutschen Bund auszuweiten versucht wurden, wird mit den größten antijüdischen Pogromen seit dem Mittelalter reagiert
    • Die sogenannten Hep-Hep-Unruhen weiten sich von Würzburg über das heutige Deutschland bis in Teile Polens, Frankreichs und Dänemarks aus
    • Ziel war die Zurückdrängung der jüdischen Emanzipationsbestrebungen

1840 n. Chr. / 5601
    • Christen schreiben einen Mord an einem christlichen Prediger und seinem Diener in Damaskus unter Bezug auf die Ritualmordlüge Jüdinnen:Juden zu. Diese Erklärung des Mordes findet bei der muslimischen Bevölkerung Anklang, die mit Gewalt gegen Jüdinnen:Juden reagiert. Die sogenannte Damaskus-Affäre verbreitet die christliche Ritualmordlüge im Osmanischen Reich und dem islamischen Nahen und Mittleren Osten.

Ab 1845 n. Chr. / 5606
    • Die zunehmende Industrialisierung, die Trennung von Produktions- und Zirkulationssphäre im Kapitalismus und die rasante Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes befördert – im Anschluss an die im Stereotyp des „Geldjuden“ oder „Wucherers“ begründete, vermeintliche Affinität von Jüdinnen:Juden zu Geld, Zins und Kapital – eine neue Form der Judenfeindschaft, die sich später in der vermeintlichen „Kritik“ des „internationalen Finanzjudentums“ ausdrücken wird.
1853 n. Chr. / 5614
    • Arthur de Gobineau verfasst mit dem Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen erste „rassentheoretische“ Abhandlung, in der er mit pseudowissenschaftlichen Mitteln eine überlegene „arische Rasse“ konstruiert, der Jüdinnen:Juden als „semitische Rasse“ unterlegen sei.

1860 n. Chr. / 5621
    • In Italien wird der jüdische Junge Edgardo Motara heimlich von einem christlichen Dienstmädchen getauft und entführt, um ihn unter christlicher Obhut im Vatikan unter persönlichem „Schutz“ von Papst Pius IX. aufwachsen zu lassen, beginnt ein Rechtsstreit mit der jüdischen Gemeinde, die erfolglos Edgardos Freilassung fordert
    • Daraufhin wird in Paris die erste internationale Organisation zum Schutz von Jüdinnen:Juden, die Alliance Israélité Universelle, gegründet

1870 n. Chr. / 5631
    • Die jüdische Emanzipation setzt sich in ganz Westeuropa durch.
    • Die „Verwissenschaftlichung“ der Judenfeindschaft setzt ein. Mit pseudowissenschaftlichen Methoden der Kraniometrie („Schädelmessung“) und Anthropmetrie („Maßverhältnisse am menschlichen Körper“) sollen Unterschiede zwischen „Menschenrassen“ „bestätigt“ und ein ungleicher politischer Umgang gerechtfertigt werden

1879 n. Chr. / 5640
    • Der Publizist Wilhelm Marr etabliert mit seiner Propaganda-Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanentum – Vom nichtconfessionellen Standpunkt aus Betrachtet den Begriff „Antisemitismus“
    • Die Judenfeindschaft wird nicht in religiösen Begriffen begründet, sondern politisch und völkisch. Marr unterstellt „den Juden“ das Streben nach Weltherrschaft und der Zersetzung von gewachsenen Gemeinschaften.
    • Als politisches Gegengewicht gründet Marr die Antisemitenliga als politische Bewegung. Viele ähnliche Bewegungen, Parteien, Verlage und Zeitungen entstehen vor allem im deutschsprachigen Raum, die vor allem vom Bildungsbürgertum getragen werden
    • Antisemitismus gehört zum „guten Ton“ und als Zugehörigkeitsmerkmal zur deutschen Elite. Die Historikerin Shulamit Volkov hat den deutschen Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts daher als „kulturellem Code“ bezeichnet.

1881 n. Chr. / 5642
  • Ein tödliches Attentat auf den russischen Zar Alexander II. durch eine terroristische Untergrundorganisation Narodnaja Wolja wird mit antijüdischen Verschwörungsmythen geschmückt, nach denen sich Jüdinnen:Juden durch die Ermordung des Zaren den Umsturz der ganzen Gesellschaft erhoffen.
  • Im Zuge des Attentats finden bis 1884 n. Chr. / 5645 mehrere hundert Ausschreitungen mit hunderten ermordeten und tausenden verletzten Jüdinnen:Juden, zerstörtem Besitz und einer Verschärfung der russischen „Judengesetze“ statt

1886 n. Chr. / 5648
    • In Frankreich veröffentlicht Édouard Drumont das antisemitische Werk La France Juive (Das jüdische Frankreich). Zentrum seiner antijüdischen ist zwar der christliche Gottesmordmythos, er bedient sich aber auch moderner „rassentheoretischer“ Argumentationen

1889 n. Chr. / 5651
    • Nach dem Vorbild von Wilhelm Marrs Antisemitenliga die Ligue nationale anti-sémitique de France, auch hier entstehen antisemitische Bewegungen, Verlage und Zeitungen
    • Auch in Frankreich wird der Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zum „kulturellen Code“ und gilt in Bildungsbürgertum und Politik als erstrebenswerte Einstellung

1894–1899 n. Chr. / 5656–5661
    • Dieses antisemitischen Klima in Frankreich gipfelt im Justizskandal der Dreyfuß-Affäre. Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfuß wird auf Grundlage zweifelhafter Dokumente und widerrechtlicher Beweise des Landesverrates durch vermeintliche Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich angeklagt. Die im Zuge der Affäre stattfindenden Krawalle, Attentate, politische Intrigen bis hin zum versuchten Staatsstreich durch antidemokratische Kräfte stürzte die französische Gesellschaft in eine schwere politische und moralische Krise

1896 n. Chr. / 5658
    • Unter dem Eindruck des während der Affäre offen geäußerten Antisemitismus in Teilen der französischen Bevölkerung schreibt Theodor Herzl das Buch der Judenstaat, das das Fundament für den modernen, politischen Zionismus als jüdischer Nationalbewegung legt

1897 n. Chr. / 5659
    • In Basel findet der erste Zionistenkongress statt, auf dem die ZWO, Zionist World Organisation oder Zionistische Weltorganisation auf Initiative Herzls gegründet wird. Dort wurde mit dem Basler Programm auch festgelegt, dass in Reaktion auf die zunehmende antisemitische Verfolgung in Europa ein jüdischer Nationalstaat auf dem Gebiet des zu diesem Zeitpunkt unter Kontrolle des Osmanischen Reiches stehenden Palästina entstehen soll