Hotspots Kreuzwege: Zur besonderen Rolle von Kreuzwegstationen in der Vermittlung judenfeindlicher Botschaften

Eine Analyse der über die Meldefunktion von spuren-sichtbar-machen.de eingegangenen Hinweise zeigt ein klares Muster: Besonders häufig sind Kreuzwegstationen betroffen, wenn es um die Darstellung judenfeindlicher Inhalte geht. Diese Beobachtung wirft Fragen auf: Warum gerade Kreuzwegbilder? Was macht sie so anfällig für antijüdische Narrative? Und wie ist das historisch zu erklären?

Zunächst ist wichtig festzuhalten: Kreuzwegstationen und die damit verbundene Andachtspraxis sind nicht per se judenfeindlich. Es handelt sich um eine spirituelle Tradition, die auf das 13. Jahrhundert zurückgeht und ursprünglich dazu diente, die letzten Stationen im Leben Jesu Christi meditativ nachzuvollziehen. Die ersten Kreuzwege bestanden meist aus Prozessionen oder symbolischen Darstellungen des Leidenswegs Christi – ohne festgelegte Zahl oder Form der Stationen. Eine entscheidende Wende nimmt die Geschichte der Kreuzwegdarstellungen im Jahr 1731, als Papst Clemens XII. verbindlich 14 Stationen festlegt. Diese Normierung wirkt sich maßgeblich auf die Bildtradition aus. Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert – im Zeitalter der Volksfrömmigkeit und historisierenden Inszenierung – erleben gemauerte oder geschnitzte Kreuzwegstationen einen regelrechten Boom: in Kirchen, an Kalvarienbergen, auf Wallfahrtswegen.

Mit dieser Standardisierung verfestigte sich aber ein zentrales Motiv: die sogenannte Gottesmordlegende. Diese bis heute folgenreiche Erzählung macht das jüdische Volk kollektiv verantwortlich für den Tod Jesu. Ein ausführlicher Artikel auf unserer Seite geht auf die historischen und theologischen Ursprünge sowie die Wirkung dieses Mythos ein:
Die Gottesmordlegende – Grundlage für judenfeindliche Passionsdarstellungen über Jahrhunderte

Dabei war die Standardisierung der Kreuzwegstationen kein antisemitisches Projekt an sich – doch sie verfestigte eine Bildtradition, in der die Gottesmordlegende zentrale Bedeutung erhielt. Die ständige Wiederholung, die Auswahl der Szenen, die ästhetische Aufladung und das gesellschaftliche Klima der Zeit wirkten zusammen: Die normierten Kreuzwegstationen wurden zur Bühne einer theologisch problematischen Schuldzuweisung, die über Jahrhunderte hinweg antisemitische Haltungen religiös legitimierte – und nicht selten auch Gewalttaten vorbereitete.

Ein detailliertes Steinrelief mit einer sitzenden Figur, die sich die Hände wäscht, einem Kind, das eine Schale hält, und zwei stehenden Figuren - eine davon in Ketten - neben einem Wächter, eingefasst in einen kunstvollen architektonischen Rahmen. ( )

Ein Blick auf die erste Station vieler Kreuzwegbilder offenbart ein zentrales Problem: Sie stellt in der Regel die Szene dar, in der der römische Statthalter Pontius Pilatus seine Hände in Unschuld wäscht (vgl. Matthäus 27,24). Neben ihm steht oft ein junger Diener mit einer Schüssel; Jesus wird von einem römischen Soldaten abgeführt. Diese Szene kulminiert beim Evangelisten Matthäus im sogenannten Blutfluch: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Matthäus 27,25). Damit verlagert das Matthäusevangelium die Schuld an Jesu Tod von der römischen Justiz auf das jüdische Volk und dessen Nachkommen.

In der Bildsprache wird dieser Schuldvorwurf häufig noch verstärkt: Jüdische Würdenträger erscheinen als Drahtzieher im Hintergrund, oft versehen mit typisierenden physiognomischen Merkmalen – gebogene Nasen, enge Augenabstände, dunkle Gewänder. Diese Darstellung bedient nicht nur das Bild des „Gottesmordes“, sondern auch das antisemitische Stereotyp vom hintergründig agierenden Juden, der im Verborgenen Unheil stiftet – ein Motiv, das bis heute im modernen Antisemitismus wirksam ist.

Ein Gemälde zeigt Jesus, der mit einer Dornenkrone auf dem Boden liegt und von zwei Männern an das Kreuz genagelt wird, während zwei andere zusehen. In der Nähe ruhen Knochen und ein Schädel unter einem bewölkten Himmel. ( )

Auch auf der Kreuzwegstation der Kreuzannagelung finden sich besonders häufig Figuren, die als jüdisch gelesen werden können: sei es durch Kleidung, Haltung oder Gesichtszüge. In vielen Fällen sind es jüdisch gekennzeichnete Gestalten, die den Kreuzigungsvorgang durchführen oder beaufsichtigen. Hier wird nicht nur der Gottesmord dargestellt, sondern regelrecht inszeniert und tradiert.

Ein bärtiger Mann in Gewand und Kopfbedeckung weist in die Ferne, während ein anderer Mann ein Messer über eine liegende Person hält, was auf eine dramatische oder biblische Szene hindeutet. ( )

Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: In zahlreichen Kreuzwegdarstellungen lassen sich rassistisch aufgeladene physiognomische Merkmale beobachten, die gezielt zur Abgrenzung von jüdischen und nicht-jüdischen (oder vermeintlich nicht-jüdischen) Figuren eingesetzt werden. Während Jesus, Maria oder andere positiv konnotierte Gestalten mit idealisierten, klassischen Gesichtszügen gezeichnet sind, erscheinen jüdische Figuren mit überzeichneten, oft grotesken Merkmalen. Diese visuelle Codierung ist nicht nur Ausdruck vergangener Vorurteile, sondern transportiert bis heute wirkmächtige antisemitische Deutungsmuster.

Es wäre ein fataler Fehler, die judenfeindliche Wirkung dieser Darstellungen auf einen bloßen ästhetischen Stil zu reduzieren. Die Geschichte zeigt: Pogrome gegen Jüdinnen:Juden fanden besonders häufig im unmittelbaren Anschluss an Karfreitagsprozessionen statt. Die emotionale Aufladung der Kreuzwegandachten – die Identifikation mit dem leidenden Jesus von Nazareth – wurde nicht selten in tätlichen Hass gegen Jüdinnen und Juden umgeleitet. Die Darstellung von Jüdinnen:Juden als Schuldige am Leiden Christi war dabei ein zentraler Auslöser.

Die Häufung von Kreuzwegbildern auf spuren-sichtbar-machen.de ist also kein Zufall. Sie ist Ausdruck einer jahrhundertealten Tradition, in der sich fromme Praxis, religiöses Bildgedächtnis und judenfeindliche Narrative gefährlich miteinander vermischen. Nicht der Kreuzweg als solcher ist das Problem – wohl aber sehr häufig seine konkrete bildliche Umsetzung, insbesondere im 18., 19. und 20. Jahrhundert. Wer diese Darstellungen heute betrachtet oder zeigt, muss ihre Wirkungsgeschichte mitdenken – und kritisch reflektieren.