664 antisemitische Vorfälle erfasste die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Nordrhein-Westfalen im Jahr 2023. Das entspricht einer Steigerung von 152 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (264 Vorfälle). Durchschnittlich wurden 13 Vorfälle pro Woche registriert, im Jahr 2022 waren es noch fünf Vorfälle pro Woche. Insbesondere seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober zeigte sich der Antisemitismus enthemmter und beeinträchtigte zunehmend das alltägliche jüdische Leben.
65 Prozent aller im Jahr 2023 registrierten Vorfälle ereigneten sich nach dem antisemitischen Massaker der Hamas, dem größten Massenmord an Jüdinnen_Juden nach der Schoa. Die antisemitischen Reaktionen auf den 7. Oktober zeigen eine deutliche Verschärfung antisemitischer Erscheinungsformen in NRW, die Zahl der Vorfälle verstetigte sich und blieb bis zum Jahresende auf hohem Niveau. Der Jahresbericht analysiert deshalb die Auswirkungen des 7. Oktober auf NRW in einem gesonderten Kapitel.
Neben der quantitativen Zunahme der Vorfälle hat im vergangenen Jahr auch die Gewaltbereitschaft zugenommen. Antisemitisch motivierte Angriffe und Bedrohungen haben sich verdoppelt bis verdreifacht. Es gab 16 Angriffe (2022: fünf) und 16 Bedrohungen (2022: sechs), hinzu kamen zwei Fälle extremer Gewalt.
Antisemitische Anfeindungen richteten sich mehrheitlich gegen Jüdinnen_Juden. In 176 Fällen, in denen direkt Betroffene ermittelt werden konnten, waren Einzelpersonen und in 200 Fällen Institutionen von Antisemitismus betroffen. In 60 Prozent der Fälle mit direkt betroffenen Einzelpersonen, also in 106 Vorfällen, waren die Personen jüdisch, israelisch oder als solche adressiert.
Antisemitische Vorfälle ereigneten sich im Jahr 2023 vor allem im öffentlichen Raum sowie in alltagsprägenden Bereichen, was für Betroffene meist besonders bedrohlich und einschränkend ist. So fanden die meisten Vorfälle auf der Straße (201), in Bildungseinrichtungen (73, z.B. Universitäten und Schulen), in öffentlichen Gebäuden (71) und in öffentlichen Verkehrsmitteln (47) statt. In 42 Fällen erlebten die Betroffenen Antisemitismus in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld. 75 Vorfälle ereigneten sich im Internet.
RIAS NRW dokumentierte 117 Versammlungen mit antisemitischen Aufrufen, Parolen, Transparenten oder Redebeiträgen. Davon fanden 71 Versammlungen nach und mit Bezug zum 7. Oktober statt.
Mit 372 Vorfällen war der israelbezogene Antisemitismus im Jahr 2023 die mit Abstand am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform. 82 Prozent dieser Vorfälle ereigneten sich nach dem 07. Oktober. Sie äußerten sich vor allem in der Delegitimierung und Dämonisierung Israels oder darin, dass Jüdinnen_Juden in NRW persönlich und kollektiv für das Handeln der israelischen Regierung verantwortlich gemacht wurden. Während der israelbezogene Antisemitismus im Jahr 2022 noch rund 33 Prozent ausmachte, kam er im Jahr 2023 in 56 Prozent aller erfassten Vorfälle vor.
In 206 Vorfällen wurden Narrative des Post-Schoa-Antisemitismus bedient. Eine Erscheinungsform, die sich in der Leugnung, Relativierung oder Verharmlosung der Schoa artikuliert. In 58 Fällen wurden Gedenkorte, die an die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern, gezielt angegriffen. Häufig berührt ein Vorfall mehr als eine Erscheinungsform, so dass im Jahr 2023 vor allem israelbezogener Antisemitismus und Post-Schoa-Antisemitismus in 74 Fällen in Kombination auftraten. Angriffe auf die Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus fanden somit vielfach mit klarem Bezug zum 7. Oktober statt.
RIAS NRW weist darauf hin, dass weiterhin von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist, das erst durch eine kontinuierliche Erfassung antisemitischer Vorfälle weiter erhellt werden kann.
Stimmen zum Jahresbericht 2023
Josefine Paul, Familien- und Integrationsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen:
„Antisemitismus ist ein Angriff auf die Grundwerte unserer Demokratie und die Würde jedes Einzelnen. Die von RIAS vorgelegten Zahlen und Analysen zeigen, dass wir in unserem Engagement in Nordrhein-Westfalen gegen Antisemitismus sowie gegen Holocaust-relativierendes Gedankengut, Israel-Hass und Diskriminierung nicht nachlassen dürfen, sondern es weiter verstärken müssen. Dies ist nicht zuletzt auch unsere historische Verantwortung. Seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 hat sich die Situation auch hier in Deutschland und in NRW noch einmal deutlich verschärft: Die Zahl antisemitischer Vorfälle ist seitdem deutlich gestiegen und auf einem hohen Niveau geblieben. Es ist daher heute dringender denn je, gesamtgesellschaftlich gegen Antisemitismus vorzugehen. Der RIAS-Bericht dient als wichtige Grundlage für präventives Handeln und Maßnahmen zur Bekämpfung von Hass und Diskriminierung.“
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen:
„Der Jahresbericht von RIAS bestätigt, wie alltagsprägend Antisemitismus für Jüdinnen und Juden in Nordrhein-Westfalen ist – der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober hat die Situation noch einmal deutlich verschärft. Neben verbalen Aggressionen, die ein hohes Einschüchterungs- und Bedrohungspotential entfalten, kommt es auch immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen. Jüdische Studierende nehmen häufig ihre Universität als unsicheren Raum wahr, in dem sie sich antisemitischen Äußerungen und israelfeindlichen Stimmungen offen ausgesetzt sehen. Der Diskurs mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Israel wird angesichts der Boykottforderungen propalästinensischer Aktivisten immer schwieriger. Wir dürfen nicht zulassen, dass Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen Raum oder universitären Diskurs ausgeschlossen werden, schon gar nicht aus Angst vor Hass und Hetze. Da ist eine klare Haltung der Universitäten gefordert.“
Jörg Rensmann, Projektleiter Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus NRW:
„Besondere Sorge bereitet uns die virulenteste Form des Antisemitismus, der israelbezogene Antisemitismus. Häufig artikuliert er sich in Verbindung mit dem Post-Shoa-Antisemitismus, d.h. der Leugnung oder Bagatellisierung der Präzedenzlosigkeit der Shoah. Wir haben es also oft mit einer Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf Israel zu tun, indem der jüdische Staat mit dem Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten in eins gesetzt wird, um zu behaupten, israelisches Regierungshandeln verfolge als Staatsziel und -programm die vollständige Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung. Israel wird milieuübergreifend als Stachel einer unerwünschten Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah wahrgenommen.“
Pressekontakt: S. Brüggemann, Tel.: 0211 822 660 333, Mail: presse@rias-nrw.de
Der vollständige Bericht mit zahlreichen Fallbeispielen kann kostenlos heruntergeladen werden.
RIAS NRW wird gefördert durch das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen und befindet sich in Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und demokratische Bildung.
Das Foto zeigt: Ministerin Josefine Paul, Nicole Pastuhoff (Präsidentin des jüdischen Studierendenverbands NRW) und Jörg Rensmann (RIAS NRW)